Der siebenjährige Henry läuft von zu Hause fort, versteckt sich im Wald, wird gefunden und seinen Eltern zurückgebracht. Niemand bemerkt, dass es nicht mehr dasselbe Kind ist, sondern nur das gleiche. Kobolde haben Henry Day ausgetauscht, und so wächst ein Kobold in die Menschenwelt hinein. Dafür wird Henry zu Aniday und lebt als Schattenwesen weiter. Lange Zeit bleiben die Veränderungen den Menschen verborgen. Doch dann kommen sich die beiden Welten immer näher.
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Henry Day ist sieben Jahre alt, als er von zu Hause weg läuft und sich im Wald versteckt. Als er schließlich gefunden wird, ist er nicht mehr derselbe, ein Wechselbalg hat seine Stelle eingenommen. Der echte Henry lebt nun unter dem Namen Aniday in der Gruppe der Kobolde, wie sie selbst sich nennen. Von diesem Punkt an wird das weitere Leben der Henrys über viele Jahre hinweg beschrieben. Optisch besonders hübsch an der abwechselnden Erzählweise der beiden Hauptfiguren ist, dass die Kapitel, die vom Henry in unserer Welt erzählt werden, mit einem großen Anfangsbuchstaben beginnen, während den Kapiteln, die aus Anidays Sicht geschildert werden, ein Baum als Symbol vorangestellt ist. So wird der Gegensatz von Natur und Zivilisation als Lebensraum gleich deutlich gemacht.
Der neue Henry hat sich gut auf sein Leben unter den Menschen vorbereitet und verwandelt sich, während er älter wird, immer mehr in einen echten Menschen. Seine Angst, man könne ihn als Wechselbalg durchschauen, wird mit der Zeit immer geringer und er findet schließlich seinen Platz in der Welt. Die Vergangenheit lässt ihn aber nicht ruhen und sein musikalisches Talent, dass scheinbar aus seiner Zeit vor der Verwandlung in ein Wechselbalg stammt, ist schließlich auch der Auslöser für ihn, mehr über seine Vergangenheit herauszufinden. Was Henry über sein früheres Ich vor seiner Zeit bei den Kobolden erfährt, erschreckt und verwirrt ihn allerdings auch und über allem liegt die unterschwellige Furcht, dass weitere Kinder aus seiner Familie geraubt und mit einem Wechselbalg vertauscht werden könnten.
Aniday hingegen fühlt sich nicht wirklich wohl im Wald, er hat das Bedürfnis nach festen Strukturen, führt einen Kalender, obwohl die Kobolde sich ansonsten einfach nur an der Natur orientieren und versucht eine Art Tagebuch zu führen, um das neue Leben besser zu verstehen. Die meisten anderen Kobolde können (und wollen) nicht schreiben und so wird er in gewisser Weise zum Biographen ihrer Existenz. Als jedoch ein Austauschversuch schief geht, gerät das Leben im Wald aus den Fugen, das Lager der Kobolde wird vernichtet und die Gruppe verliert den inneren Zusammenhalt, der sie durch die Jahrhunderte geleitet hat. Dazu kommt, dass neue Strassen und Siedlungen immer tiefer in das abgestammte Koboldgebiet hinein vordringend gebaut werden und so die alten Wege und Traditionen verloren gehen.
Die Modernisierung der Welt und die Zerstörung der Natur zugunsten des Ausbaus der Zivilisation werden zwar thematisiert, sind aber nicht das Hauptanliegen des Autors. Donohue ist es wichtiger darzustellen, wie die Suche nach ihrer Vergangenheit beide Henrys nicht ruhen lässt und sie mit allen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, versuchen ihr jeweiliges Ich zu festigen und eine sichere Identität aus Teilen des aktuellen Leben und Bruchstücken ihrer Vergangenheit zu konstruieren. „Das gestohlene Kind“ ist so nur vordergründig ein phantastischer Roman, dahinter steckt eine der großen Fragen der Menschheit, nämlich nach der Ausgestaltung des eigenen Daseins. Wie wird man eigentlich zu dem Menschen, der man irgendwann ist – Gene, Umgebung, einzelne Erlebnisse – was davon hat den größten Einfluss auf uns, wie weit kann man sein eigenes Schicksal eigentlich bestimmen und wie weit wird die Identität vom Schicksal bestimmt. Die Suche nach der eigenen Identität und ihren Ursprüngen ist nicht einfach nur eine nette Ausgangsidee für diesen mitreißenden Roman, sondern etwas, was jeden von uns in gewissem Maße betrifft und ich finde, dass es niemandem schadet ein bisschen darüber nachzudenken.